Einstufung eines MVZ als „Aufbau- oder Jungpraxis“

| Recht

In der Anfangsphase vertragsärztlicher Tätigkeit (als „Wenigabrechner“) unterdurchschnittlich abrech-nende Praxen (Aufbau- bzw. Jungpraxen)...

In der Anfangsphase vertragsärztlicher Tätigkeit (als „Wenigabrechner“) unterdurchschnittlich abrech-nende Praxen (Aufbau- bzw. Jungpraxen) müssen in effektiver und realistischer Weise zum Durch-schnittsumsatz der Fachgruppe aufschließen können. Das gilt auch für Medizinische Versorgungszen-tren (MVZ); für deren Einstufung als Aufbau- bzw. Jungpraxis kommt es auf ihren Gründungszeitpunkt und nicht auf den Zeitpunkt der erstmaligen Zulassung der unter Zulassungsverzicht in das MVZ ein-tretenden Ärzte an. Regelungen des Honorarverteilungsvertrags über die Privilegierung von Aufbau- bzw. Jungpraxen (wie: Berechnung des Regelleistungsvolumens nach Fachgruppendurchschnittswerten) sind auf das Aufbau- bzw. Jung-MVZ ggf. entsprechend anzuwenden oder wegen des Grundsatzes der Honorarverteilungsgerechtigkeit verfassungskonform auszulegen (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 05.10.2016, L 5 KA 773/13).

Nach der dem Aufbaupraxenprivileg zugrundeliegenden Rechtsprechung des BSG (zu Fallzahlzu-wachsbegrenzungsregelungen) muss im Ausgangspunkt gewährleistet sein, dass umsatzmäßig un-terdurchschnittlich abrechnende Praxen die Möglichkeit haben, zumindest den durchschnittlichen Um-satz der Arztgruppe zu erreichen. Dem Vertragsarzt muss - wegen seines Rechts auf berufliche Ent-faltung unter Berücksichtigung der Honorarverteilungsgerechtigkeit - die Chance bleiben, durch Qualität und Attraktivität seiner Behandlung oder auch durch eine bessere Organisation seiner Praxis neue Patienten für sich zu gewinnen und so legitimer Weise seine Position im Wettbewerb mit den Berufs-kollegen zu verbessern. Daher ist allen Praxen mit unterdurchschnittlichen Umsätzen die Möglichkeit einzuräumen, durch Umsatzsteigerung jedenfalls bis zum Durchschnittsumsatz der Fachgruppe auf-zuschließen und damit ihre Praxis zu einer mit typischen Umsätzen auszubauen. Dies hat das BSG in zeitlicher Hinsicht dahingehend konkretisiert, dass Praxen in der Aufbauphase - die auf einen Zeitraum von drei, vier oder fünf Jahren bemessen werden kann - die Steigerung ihres Honorars auf den Durchschnittsumsatz sofort möglich sein muss, während dies anderen, noch nach der Aufbauphase unterdurchschnittlich abrechnenden Praxen jedenfalls innerhalb von fünf Jahren ermöglicht werden muss. Die genaue Bestimmung des Zeitraums des Aufbaus einer Praxis, bei der es sich um eine Erst-zulassung - so genannte Anfängerpraxis - oder um eine Neuzulassung nach vorheriger vertragsärztlicher Tätigkeit in einem anderen Planungsbereich handeln kann, ist der Regelung im Honorarverteilungsvertrag (HVV) vorbehalten. Das BSG hat weiterhin darauf hingewiesen, dass solche Honorarsteigerungen jedenfalls durch Fallzahlerhöhungen möglich sein müssen, während es dies für Honorarsteigerungen durch Fallwerterhöhungen offengelassen hat. Für den Wachstumsanspruch der Jung- und Aufbaupraxen genügt es nicht, den Fachgruppendurchschnitt irgendwie und irgendwann erreichen zu können, sondern es muss möglich sein, die Steigerung bis zum Durchschnitt in effektiver Weise und in realistischer Weise zu erreichen. Dies erfordert allerdings nicht die Möglichkeit kontinuierlicher Steigerung, sondern es kommt lediglich auf das Ergebnis - die Möglichkeit, den Durchschnittsumsatz zu erreichen - an. Praxen mit unterdurchschnittlichem Umsatz müssen nicht von jeder Begrenzung des Honorarwachstums verschont werden. Ein Anspruch darauf, dass die Gesamtzahl der in einem Quartal behandelten Fälle jeweils sogleich dem RLV für dieses Quartal zugrunde gelegt wird, besteht nicht. Bestimmungen, die ein Honorarwachstum innerhalb eines gewissen Zeitraums unterbinden, sind nicht ausgeschlossen, sofern die Praxen in der nach Ablauf des Moratoriums verbleibenden Zeit noch die effektive, d. h. realistische, Möglichkeit haben, den Durchschnittsumsatz zu erreichen.

Davon ausgehend ist für die an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden MVZ hinsichtlich des zeitlichen Anwendungsbereichs eines im HVV geregelten Aufbaupraxenprivilegs auf den Grün-dungszeitpunkt des MVZ und nicht auf den Zeitpunkt der erstmaligen Zulassung der in das MVZ unter Zulassungsverzicht eintretenden Ärzte abzustellen; der von der Beklagten insoweit postulierte "Arzt-bezug" findet im Gesetz (in den für MVZ geltenden Vorschriften) keine Stütze und ist nicht statthaft. Der im Grundsatz der Honorarverteilungsgerechtigkeit verankerte Wachstumsanspruch und damit das Aufbaupraxenprivileg steht dem MVZ als an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmendem Leis-tungserbringer (§§ 72 Abs. 1 Satz 1, 95 Abs. 1 Satz 1 SGB V) zu. Das MVZ und nicht die beim MVZ angestellten Ärzte steht mit anderen Leistungserbringern (anderen MVZ oder Einzelpraxen bzw. Be-rufsausübungsgemeinschaften) im (Wachstums-)Wettbewerb. Entsprechendes gilt für den sachlichen Anwendungsbereich des Aufbaupraxenprivilegs. Hierfür kommt es darauf an, ob das (in zeitlicher Hinsicht in der Aufbauphase befindliche) MVZ - als "Wenigabrechner" - (noch) unterdurchschnittlich abrechnet. Da die Ärzte des MVZ unterschiedlichen Arztgruppen angehören, ist (soweit die Ärzte den RLV-Regelungen unterworfen sind) hierfür die Summe der Fachgruppendurchschnittswerte (Fallzahlen) maßgeblich.